Dr. Wunder AG
2022-24: LANGSAMES THEATER
In den Jahren 2022-2024 werden wir erneut gefördert durch die Konzeptionsförderung des Landes Niedersachsen.
Für diese Zeit haben wir uns entschlossen, in unserer künstlerischen Arbeit das LANGSAME THEATER zu erforschen. Um den hierfür notwendigen Prozess des Verlernens alter Muster und des Trainierens von bislang unbekannten Verfahren zu unterstützen, erheben wir die Langsamkeit zum transformatorischen Imperativ, zum Hilfsmittel, zur Superkraft. Wir widmen ihr ein Manifest:
LANGSAMES KÜNSTLERISCHES FORSCHEN bedeutet:
> Wir bleiben länger dran an Themen, Fragen, Formen, Erkenntnissen und Netzwerken: Wir erarbeiten z.B. mehrere Inszenierungen zum selben Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln oder entwickeln Arbeiten weiter, um an Gespräche und Kontakte anzuknüpfen, die bei den Aufführungen entstehen.
> Wir entwickeln unsere Ästhetiken lebenslang weiter, erlernen neue Fähigkeiten und bauen auf Erfahrungen auf.
> Wir denken die Form der Vermittlung unserer Projekte und deren zeitliche Vorläufe schon in der Entwicklung mit und respektieren die Bedürfnisse unserer nichtprofessionellen Beteiligten.
LANGSAMES PRODUZIEREN heißt:
> Wir arbeiten mit solidarischer Bezahlung und der stetigen Aushandlung, was das bedeutet.
> Wir bauen Strukturen im Wissen darum, dass Krankheit ein Teil des Lebens ist.
> Wir planen den Produktionszeitraum als längere Strecke; für eine gewissenhaftere Recherche und bessere Alltags- und Familienkompatibilität.
> Bühnenbild und Ausstattung arbeiten mit Wiederverwertung von Vorhandenem und Beschränkung als Maßgabe.
> Wir machen Theater ohne Flugreisen.
LANGSAMES PROBEN bedeutet:
> Wir begreifen Schreiben und Inszenieren als zwei Teile einer Produktion, damit endlich genug Zeit für beides da ist.
> Wir lassen Zeit für Unklarheiten, um szenische Bilder reifen zu lassen.
> Wir nehmen uns mehr Zeit zum Üben von Körperpraxen/-techniken und anderen Fähigkeiten, die wir auf der Bühne brauchen.
> Wir mahnen uns zur Vorsicht vor schnellen Thesen oder pragmatischen Setzungen. Wir bleiben kritisch, ohne die Lust am Utopischen zu verlieren.
> In der biographischen Arbeit sehen wir neben der eigenen Betroffenheit immer auch die eigenen Privilegien.
> Wir planen Care-Arbeit füreinander und für uns selbst zeitlich ein.
LANGSAMES VERBÜNDEN heißt:
> Wir arbeiten an langjährigen und guten Beziehungen zu Gastspielorten, Publikum und assoziierten Kolleg*innen und nehmen uns Zeit für informelle Netzwerkarbeit.
> Wir nutzen langjährige Netzwerke in unserem selbsternannten „Kraftwerk für soziale Wärme”.
> Wir betreiben ernsthafte Beziehungspflege mit Nicht-Besucher*innen.
> Wir denken Barrierefreiheit in allen Dimensionen mit, nehmen uns dafür Zeit und bilden uns fort.
„Wer wie was wieso weshalb warum, wer nicht fragt, bleibt dumm“.
Die Mitglieder der Frl. Wunder AG waren schon als Kinder Streber_innen, schauten die „Sesamstrasse“ und haben gemeinsam die Hildesheimer Schule durchlaufen, wo sie die folgende Formel gelernt haben: Theatermachen = Theorie -> Praxis. Das prägt.
Am Ende des Studiums wollten wir unsere Entdeckerlust nicht aufgeben und uns auch nicht entscheiden, ob wir nun als Kulturwissenschaftler*innen, Theatermacher*innen oder Theatervermittler*innen arbeiten sollten.
Forschen und Theatermachen, Wissenschaft und künstlerische Praxis – das sind für die Frl. Wunder AG keine Gegensätze, sondern bilden vielmehr produktive Reibungspotenziale. Die Frl. Wunder AG hat einen spezifischen Recherche- und Forschungsansatz entwickelt, den wir als Künstlerische Feldforschungbezeichnen. Die Probenarbeit beginnt mit einer Recherche. Mit Kameras, Diktiergeräten und Notizblöcken bestückt agieren wir als Ethnograf*innen sozialer Felder und Gruppen (z.B. von Mensch-Tier-Verhältnissen in „Ein Bankett für Tiere“), als Biograf*innen unserer eigenen historischen Familiengeschichte und Wurzeln („Auf den Spuren von…“) oder als Soziolog_innen von gesellschaftspolitischen Themen der Jetzt-Zeit (zur Erschöpfung von Arbeiter_innen in „Gehenlassen“). Wir dokumentieren unsere Eindrücke, wir sammeln Erzählungen, Objekte, Atmosphären, wir lernen kulturelle Praxen, wir bilden Komplizenschaften mit Einzelpersonen und Initiativen. Nach diesem Prozess des Dokumentierens folgt die Auswertung: Was haben wir über das Thema herausgefunden und wie wollen wir einem Publikum unsere Erkenntnisse vermitteln? Und wie können wir eine Aufführungssituation schaffen, die den Forschungsprozess für das Publikum transparent macht und mit ihm zusammen fortführt?
Wenn wir uns dann als Performer*innen das recherchierte Material in den Proben körperlich und sprachlich aneignen, kommen zu den konzeptionellen und kulturwissenschaftlichen Forschungsfragen die künstlerischen hinzu. In der Probenarbeit bewegen wir uns im Spannungsfeld von angeeignetem (Erfahrungs-)Wissen und der Offenheit der theatralen Übersetzung. Was wir schlussendlich präsentieren, ist das Ergebnis eines kollektiven und offenen Suchprozesses, der mit einer Frage seinen Ausgangspunkt nahm: Sag mal, wo sind alle Tiere aus den Tierfilmen hin? Sind nicht alle unsere Familiengeschichten Fluchtgeschichten? Oder welche Arbeit erschöpft dich? Unsere künstlerische Forschung in der Frl. Wunder AG reflektieren wir wiederum in wissenschaftlichen Kontexten, in denen viele von uns als Professor*innen, Dozent*innen oder Mitarbeiter*innen von Universitäten, Hochschulen, Stiftungen und Schulen tätig sind.
DOWNLOADS
Vanessa Lutz
Theater und Migration (über den Prozess von „Auf den Spuren von…)
Melanie Hinz
Künstlerische Feldforschung (Vortrag, Wolfsburg 2014)
Melanie Hinz
Nachahmung auf Probe (aus: Hinz/Roselt (Hg.): Chaos und Konzept, Berlin 2011)